Anmerkung zum Transkript

Das vorliegende Transkript wurde auf das Wesentliche gekürzt. Stellen, die den Lesefluss stören könnten – wie längere Denkpausen, Füllwörter („Ähm’s“), Versprecher, Wiederholungen sowie Interaktionen mit dem Publikum, die nicht unbedingt zum Kern des Vortrags beitragen – wurden entfernt. Zudem wurden einige Sätze umgestellt oder leicht angepasst und ergänzt, um den Text flüssiger und verständlicher zu gestalten und den beabsichtigten Kontext klarer zu vermitteln. Darüber hinaus haben wir das Transkript in mehrere in sich abgeschlossene Abschnitte unterteilt, um den Lesefluss zu verbessern und die Bedeutung und Schwere der Worte besser hervorzuheben. Diese Anpassungen wurden vorgenommen, ohne den Inhalt oder die beabsichtigte Botschaft zu verändern. Alle wesentlichen Informationen und Bedeutungen bleiben unverändert.

Einführung und kurze Wiederholung

Imran Hussein: Bismillah, inna alhamdulillah, wa salatu wa salam ala rasulillah. Assalamu’aleyykum wa rahmatullah, Brüder.

Aus dem Studentenkreis: Wa aleyykumu salam wa rahmatullahi wa barakatuhu.

Imran Hussein: Heute setzen wir unseren Kurs „Grounded – Being Muslim in a Godless World“ fort. Einige von euch waren schon letzte Woche dabei, also möchte ich euch bitten, zusammenzufassen, was wir besprochen haben. Wer möchte anfangen? Was waren die Hauptthemen der letzten Woche?

Ein Student: Weltanschauungen.

Imran Hussein: Genau, Weltanschauungen waren das zentrale Thema, da sie die Grundlage für den gesamten Kurs bilden. Was versteht man also unter einer Weltanschauung?

Ein Student: Eine Weltanschauung ist, wie jemand die Welt sieht und interpretiert – wie er die Dinge versteht, die um ihn herum passieren, basierend auf seinen Erfahrungen, dem, was ihm beigebracht wurde, und seiner Intuition. Es ist ein Zusammenspiel all dieser Faktoren.

Imran Hussein: Wie würdest du also zusammenfassen, was du gerade gesagt hast? Was ist eine Weltanschauung?

Ein Student: Eine Reihe grundlegender Überzeugungen.

Imran Hussein: Genau, eine Reihe grundlegender Überzeugungen.

Ein Student: Sie umfasst auch moralische und ethische Prinzipien, die durch Kultur und Erziehung geprägt sind. Was in einer Kultur als positiv gilt, kann in einer anderen als negativ betrachtet werden.

Imran Hussein: Ja, es gibt eine ethische Dimension, die zur Weltanschauung gehört. Eine Weltanschauung ist also in erster Linie eine Sammlung von Überzeugungen, die unsere Wahrnehmung der Realität prägen. Diese Überzeugungen bestimmen, wie wir die Welt sehen, Informationen verarbeiten und darauf reagieren.

Ein gutes Beispiel, das wir verwendet haben, ist das Prisma. Was macht ein Prisma?

Ein Student: Es spaltet Licht in verschiedene Farben auf.

Imran Hussein: Wie lautet aber der Fachbegriff?

Ein Student: Refraktion.

Imran Hussein: Genau, der Fachbegriff dafür ist „Refraktion“. Licht tritt in das Prisma ein und nachdem es hindurchgegangen ist, tritt es in all seinen verschiedenen Farben wieder heraus. Das Prisma ist also wie eine Weltanschauung – es bestimmt, wie wir Informationen wahrnehmen und interpretieren, und beeinflusst damit, wie wir neue Überzeugungen entwickeln.

Wir hatten bereits einige Beispiele genannt. Überlegt einmal, wie die Weltanschauung eines Menschen sein Verständnis der Realität beeinflussen kann. Denkt an ein Beispiel aus der Wissenschaft, da wir hier auch Brüder haben, die Naturwissenschaften studieren, mashaAllah. 

Nehmen wir an, ein Phänomen wird von Wissenschaftlern untersucht. Zwei Wissenschaftler können die gleichen Daten betrachten und dennoch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, basierend auf ihrer Weltanschauung, und das passiert oft. Habt ihr hierzu ein konkretes Beispiel?

Ein Student: In der Quantenmechanik gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob bestimmte Phänomene eine inhärente Eigenschaft des Universums sind oder ob die Theorie noch nicht vollständig ist.

Imran Hussein: Okay. Wenn jemand sagt, dass es eine inhärente Eigenschaft des Universums ist, welcher Weltanschauung würde er deiner Meinung nach folgen?

Ein Student: Ich denke, das würde eher der Sichtweise des Szientismus entsprechen, was eine sehr dogmatische Haltung ist.

Imran Hussein: Und was ist mit denjenigen, die sagen, dass die Theorie nicht vollständig ist?

Ein Student: Sie würden ein besseres Verständnis für Wissenschaftsphilosophie haben—wobei, es kommt ganz darauf an.

Imran Hussein: Richtig, es könnten feine Unterschiede sein. Selbst Idealisten im Gegensatz zu Materialisten sehen diese Fragen wahrscheinlich unterschiedlich. Idealisten konzentrieren sich eher auf den Bewusstseinsaspekt und dessen Einfluss auf die Realität, während Materialisten diese Aspekte eher mit rein materiellen Begriffen erklären. Gibt es noch andere Beispiele, die du nennen möchtest? Vielleicht aus einem anderen Bereich?

Ein Student: Können wir auch ein Beispiel aus Sicht einer religiösen und einer nicht-religiösen Person anführen?

Imran Hussein: Ja klar.

Ein Student: Eine religiöse Person wird immer auf Gott zurückgreifen. Was auch geschieht – selbst wenn sie ein Baby verliert, sieht sie es als eine Prüfung von Gott. Eine nicht-religiöse Person würde in so einem Fall sagen, dass, wenn es einen Gott gibt, er ein böser Gott ist, weil er ihr Baby genommen hat.

Imran Hussein: Ah, du sprichst vom „Problem des Bösen“ und wie diese Themen aus verschiedenen Weltanschauungen betrachtet werden.

Ein Student: Genau.

Imran Hussein: Vollkommen richtig.

Dann haben wir noch über die grundlegende Struktur einer Weltanschauung gesprochen, die sich in drei Bereiche unterteilen lässt:

  • Ontologie – die Frage nach der Existenz, was überhaupt existiert und was die Quelle dieser Existenz ist.
  • Epistemologie bzw. Erkenntnistheorie – wie wir Wissen erlangen können, was die richtigen Wege und Quellen des Wissens sind.
  • Ethik – die Frage, was richtig und was falsch ist.

Diese drei Kategorien sind die grundlegenden Bereiche einer Weltanschauung, die wir letzte Woche besprochen haben.

Die vorherrschende Weltanschauung im Westen

Nun, da wir verstehen, was eine Weltanschauung ist und wie sehr sie unser Leben beeinflusst, können wir weitermachen. Heute werden wir uns noch tiefer mit Weltanschauungen beschäftigen und dann auf die vorherrschende Weltanschauung eingehen, die den Westen prägt und sich in vielen Teilen der Welt ausgebreitet hat. Wir werden untersuchen, wie diese Weltanschauung entstanden ist und wie sie zur dominierenden Weltanschauung geworden ist. Denn wir alle leben innerhalb dieser Weltanschauung, nicht wahr? 

Letzte Woche haben wir sie bereits grob definiert. Wir haben gesagt, dass man sie vielleicht als eine säkulare, liberale und moderne Weltanschauung beschreiben könnte. Es ist schwer, sie mit nur einem Begriff zu fassen, aber diese drei Begriffe – säkular, liberal und modern – decken die wesentlichen Merkmale der Weltanschauung ab, die heute weit verbreitet ist.

Die Menschen sehen sie als wahr an. Sie prägt das Bildungssystem, die Ethik, die Moral, die Politik – sie bestimmt, wie wir unser Leben führen. Und selbst als Muslime leben wir in gewissem Maße innerhalb dieser Weltanschauung. Das ist insbesondere eine sehr interessante Dynamik, die wir später noch genauer betrachten werden. Wir werden sehen, wie stark diese Weltanschauung unsere islamische Praxis beeinflusst und warum es manchmal schwierig sein kann, den Islam im Einklang mit dieser Weltanschauung zu praktizieren. Das werden wir ebenfalls besprechen.

Ich möchte zunächst ein Beispiel aus dem Qur’an anführen, das zeigt, wie eine Weltanschauung die Art und Weise beeinflusst, wie wir die Realität wahrnehmen:

إِنَّ فِي خَلْقِ السَّمَاوَاتِ وَالْأَرْضِ وَاخْتِلَافِ اللَّيْلِ وَالنَّهَارِ لَآيَاتٍ لِأُولِي الْأَلْبَابِ * الَّذِينَ يَذْكُرُونَ اللَّهَ قِيَامًا وَقُعُودًا وَعَلَىٰ جُنُوبِهِمْ وَيَتَفَكَّرُونَ فِي خَلْقِ السَّمَاوَاتِ وَالْأَرْضِ رَبَّنَا مَا خَلَقْتَ هَٰذَا بَاطِلًا سُبْحَانَكَ فَقِنَا عَذَابَ النَّارِ
In der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Unterschied von Nacht und Tag liegen wahrlich Zeichen für diejenigen, die Verstand besitzen, die Allahs stehend, sitzend und auf der Seite (liegend) gedenken und über die Schöpfung der Himmel und der Erde nachdenken: „Unser Herr, Du hast (all) dies nicht umsonst erschaffen. Preis sei Dir! Bewahre uns vor der Strafe des (Höllen)feuers.“
Sure al-Imran 3: 190-191.

Diese Verse bieten uns eine hervorragende Fallstudie in Bezug darauf, was wir über Weltanschauungen festgehalten haben. Wer spricht bzw. versteht Arabisch? Ich weiß, mindestens ein Bruder.

Ein Student: Ich verstehe Arabisch, aber kann nicht lesen.

Imran Hussein: Gut, keine Sorge, das Lesen wurde ja schon erledigt. Wir können also beim Verstehen weitermachen. Was wird hier auf Arabisch gesagt? Gehen wir den Vers Wort für Wort durch. Ich meine nicht wortwörtlich, aber gibt es irgendetwas, das dir auffällt? 

Ein Student: Allah sagt إِنَّ, also„Wahrlich“.

Imran Hussein: Es gibt hier also eine Betonung direkt am Anfang der aya. Und denkt daran: wenn Allah im Qur’an zu uns spricht, ist alles, was Allah sagt, eine Tatsache. Wenn Allah also etwas betont, was bedeutet das?

Ein Student: Dass wir uns auf diesen Vers konzentrieren sollen.

Imran Hussein: Ja, es ist fast schon rhetorisch. In Bezug auf diesen Vers heißt das also: Es gibt *absolut* keinen Zweifel daran, dass in der Erschaffung der Himmel und der Erde und im Wechsel von Nacht und Tag Zeichen zu finden sind. Allah meint hier das physische Universum, das existiert, das Universum, das wir tagtäglich beobachten und mit dem wir tagtäglich interagieren. Wir sehen Tag und Nacht jeden Tag. Wir leben nach dem Tages- und Nachtrhythmus, wir schlafen nachts und wachen tagsüber auf. Wir funktionieren nach diesem Zyklus. Und die Schöpfung von Himmel und Erde sowie der Wechsel von Tag und Nacht, das sind zwei Dinge, die Allah in dieser aya hervorhebt. Mit anderen Worten: Allah fordert uns auf, uns auf das physische Universum zu konzentrieren und uns klarzumachen, dass in diesen Dingen Zeichen liegen. Aber Zeichen wofür? 

Ein Student: Für Allah.

Imran Hussein: Richtig. Es sind Zeichen, die zu Allah führen, zum Verständnis von Allahs Realität. Dass Er der Schöpfer ist, der einzig Wahre, der aller Anbetung und Lobpreisung würdig ist. Am Ende des Verses fügt Allah ein spezifisches Wort hinzu, das diese Menschen beschreibt – welches ist das?

Ein Student: الْأَلْبَابِ al-Albaab.

Imran Hussein: Was bedeutet dieses Wort? 

Ein Student: Es beschreibt Menschen, die nachdenken und über die Welt reflektieren. 

Imran Hussein: Man kann sagen, es sind Menschen von „Essenz“, nachdenkliche Menschen, Menschen der Reflexion, des tiefen Nachsinnens. In Urdu könnte man sagen, dass sie das „Wesen“ von etwas erkennen, also die Essenz. Dieses Wort bezieht sich auf Menschen, die tiefgehend über Dinge nachdenken. Allah sagt uns in dieser aya also, dass es in der Schöpfung der Welt und dem Wechsel von Tag und Nacht Zeichen gibt, die auf Allah hinweisen. Diese Zeichen sind für die Menschen von Verstand und Reflexion, für diejenigen, die über die Welt nachdenken, über die Essenz. Und dann erklärt Allah im nächsten Vers, wer diese Menschen sind. Was tun sie? Allah beschreibt es uns.

Ein Student: Sie gedenken Allah.

Imran Hussein: Sie gedenken Allahs, erinnern sich an ihren Schöpfer. Und das tun sie nicht nur einmal, sondern ständig, in jedem Zustand, zu jeder Zeit. Sie erinnern sich an Allah, wenn sie sitzen, stehen oder liegen. Das ist das Erste, was sie tun. Und was tun sie noch, davor?

Ein Student: تَفَكُّر tafakkur.

Imran Hussein: Sie reflektieren tief über die Schöpfung der Himmel und der Erde. Angenommen, diese Menschen haben eine Weltanschauung. Diese Menschen tun zwei Dinge: Sie gedenken Allahs und denken über das Universum nach. Als Ergebnis kommen sie zu einer wahren Schlussfolgerung: Erstens erkennen sie die Zeichen Allahs in den Himmeln und auf der Erde. Und zweitens, was sagen sie am Ende?

Ein Student: Sie erkennen, dass sie nicht einfach zum Spaß oder zur Freude erschaffen wurden, sondern dass es einen tieferen Sinn dafür geben muss.

Imran Hussein: Ja, sie erkennen, dass das Universum, nach reiflicher Überlegung, mit einem klaren und bestimmten Zweck erschaffen wurde. Es ist nicht nur ein Spiel, es ist nicht zufällig, es ist kein bloßer Zufall. Sehr kraftvoll, oder?

Heute gibt es Wissenschaftler – Physiker, Astronomen –, die das Universum erforschen. Sie denken über das Universum nach, sie machen تَفَكُّر über das Universum. Sie verbringen ihr ganzes Leben damit, Abhandlungen darüber zu schreiben. Aber erkennen sie dabei das, was die Menschen, die Allah in dieser aya beschreibt, erkennen?

Aus dem Studentenkreis: Nein.

Imran Hussein: In den meisten Fällen nicht. Vielleicht einige, wenn Allah sie rechtleitet. Aber die meisten von ihnen betrachten das Universum, das Allah als Zeichen bezeichnet, und kommen dennoch nicht zu demselben Schluss. Warum ist das so?

Ein Student: Weil sie aufgehört haben, Allah zu gedenken.

Imran Hussein: Ja, das ist das fehlende Puzzleteil. Dies zeigt uns deutlich, wie eine Weltanschauung wirkt. Wenn eure Weltanschauung zum Beispiel eine materialistische ist, in der Gott nicht existiert, in der es kein Konzept vom Göttlichen oder einem Schöpfer gibt, werdet ihr das Universum betrachten und keinen tieferen Sinn oder Zweck darin erkennen. Ihr werdet keine Zeichen darin sehen und keinen höheren Sinn dahinter verstehen. Aber diejenigen, die Allah gedenken und das Universum reflektieren – diese Menschen mit einer anderen Weltanschauung – sehen die Zeichen Allahs und erkennen, dass das Universum mit einem klaren, göttlichen Zweck erschaffen wurde.

Beide Gruppen betrachten dasselbe – die Menschen, die an Allah glauben, sehen die Zeichen Allahs im Universum. Die Wissenschaftler, die nicht an Gott glauben, sehen das Universum ebenfalls, kommen jedoch zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Das ist mächtig, oder? Eine Weltanschauung – wie du die Realität siehst – hat einen tiefgreifenden Einfluss darauf, wie du alles interpretierst und was deine grundlegenden Überzeugungen sind.

Ein Student: Es ist wirklich schwierig, seine Weltanschauung zu ändern.

Imran Hussein: Es ist sehr schwierig, seine Weltanschauung zu ändern. Aber ist es möglich, sie zu ändern?

Aus dem Studentenkreis: Ja.

Imran Hussein: Wenn das nicht der Fall wäre, würden Menschen nicht zum Islam konvertieren, oder? Denn wenn jemand Muslim wird, verändert sich seine Weltanschauung.

Ein Student: Aber je mehr man in seiner Weltanschauung verhaftet ist, desto schwieriger wird es, sie zu ändern. Denn ein Durchschnittsmensch kann dich nicht widerlegen, wenn du so fest von deinem Standpunkt überzeugt bist. Du hast schließlich „die Antworten auf alle Fragen“, verstehst du, was ich meine?

Imran Hussein: Genau, das nennt man „die Psychologie der vorangegangenen Investition“ – je mehr du in eine Überzeugung investiert hast, desto schwerer fällt es dir, davon abzulassen. Das sieht man auch in der Dawa, oder? Du sprichst mit Vernunft, bringst rationale Argumente und gibst den Leuten Gründe, zu glauben, aber sie bleiben standhaft und ändern ihre Meinung nicht.

Ein Student: Der andere Punkt ist, dass viele ihre Weltanschauung nicht ändern wollen, weil – wenn du den Qur’an liest – du verstehst, dass Arroganz im Spiel ist. Denn wenn jemand die Absicht hat, demütig zu werden und die Wahrheit zu akzeptieren, wird Allah ihn rechtleiten. Wenn jedoch jemand arrogant ist, wird Allah ihn in seiner Arroganz belassen.

Imran Hussein: Ja, Allah wird es dieser Person leicht machen, selbst wenn es anfangs schwer ist, die eigene Weltanschauung zu ändern.

Ein Student: Und wir haben viele Beispiele dafür.

Ein anderer Student: Aber damit sie die Veränderung durch Allah akzeptieren können, müssen sie zunächst anerkennen, dass Allah die Macht hat, sie zu verändern. Sie müssen also ihre Weltanschauung zu Beginn ändern, um Allahs Veränderung in ihr Leben zuzulassen.

Imran Hussein: Ja, aber was er meint, ist, dass es um Demut geht, nicht um eine vorgefasste Meinung. Du kannst demütig sein, ohne an etwas Bestimmtes zu glauben. Ein Atheist zum Beispiel kann auf der Suche sein und offen für neue Ideen. Er ist nicht festgefahren. Wenn jemand sagt: „Ich weiß alles, meine Weltanschauung ist die einzig wahre“, wird es arrogant. Aber ein Atheist könnte sagen: „Vielleicht liege ich falsch, aber das ist meine derzeitige Ansicht.“ Er glaubt jetzt nicht an Gott, aber er ist demütig genug, Alternativen in Betracht zu ziehen. Eine solche Person könnte vielleicht Rechtleitung bekommen, weil sie nicht arrogant ist und weiterhin nach der Wahrheit sucht, auch wenn sie momentan nicht daran glaubt.Diese Situationen gibt es.

Ein Student: Es gibt Verse im Qur’an, in denen Allah sagt, dass die Menschen, die Ihn ablehnen, arrogant sind und Allah sie in ihrer Arroganz bestärken wird. Sie werden noch tiefer in ihre Arroganz verfallen, in der Position, in der sie sich befinden.

Imran Hussein: Ja, aber das ist insgesamt ein interessanter Punkt im Hinblick auf Weltanschauungen. Menschen können ihre Weltanschauung ändern. Es ist nicht immer einfach, aber es ist möglich. Und das ist auch der Grund, warum—

Aus islamischer Sicht wissen wir natürlich, dass der Islam die wahre Weltanschauung ist, die vollständigste Weltanschauung, die es uns ermöglicht, die Realität so zu verstehen, wie sie wirklich ist.

Das ist auch der Grund, warum jüngere Muslime bzw. Muslime, die generell nicht tief im Islam verwurzelt sind, manchmal in Zweifel geraten und sogar ihren Glauben verlieren. Es ist nicht so, dass sie einmal fest im Glauben standen und dann durch ihre Recherchen festgestellt haben, dass der Islam nicht wahr ist. Vielmehr war ihre Verwurzelung im Islam von Anfang an nicht stark genug, und deshalb wird ihre Überzeugung leichter erschüttert. Deshalb wurde dieser Kurs entwickelt, um den Menschen, besonders den jungen Muslimen, zu helfen, sich in der islamischen Weltanschauung zu festigen, damit sie sie umfassend verstehen und erkennen, dass es keine bessere Alternative gibt.

Das Zeitalter der Aufklärung

Also, warum ist die säkulare, liberale, moderne Weltanschauung heute die dominierende? Wir hatten Hausaufgaben. Wer erinnert sich? Hat jemand etwas recherchiert?

Ein Student: Ja, du hast gesagt, wir sollten uns mit existenziellen Philosophen beschäftigen.

Imran Hussein: Richtig. Habe ich auch etwas über die Aufklärung gesagt? Nicht? Gut, dann beginnen wir mit der Aufklärung. Wer hat schon von der Aufklärung gehört? 

Die Aufklärung lässt sich nicht leicht in einer kurzen Zusammenfassung darstellen, aber sie war eine philosophische Bewegung von Denkern und Wissenschaftlern, die einen gesellschaftlichen Wandel anstrebten. Professor Leo Damrosch hat einen wirklich guten Kurs zu diesem Thema angeboten und beschreibt die Aufklärung auf eine Art und Weise, die ich sehr interessant finde und meiner Ansicht nach für diesen Kurs besonders aussagekräftig ist. Er erklärt im Grunde, dass sich die Menschen in dieser Zeit von einer „vertikalen“ Perspektive hin zu einer „horizontalen“ Perspektive bewegten. Ich denke, das fasst es sehr gut zusammen. Im Wesentlichen bedeutet das, dass die Menschen von einer gottzentrierten Weltanschauung zu einer gottlosen Weltanschauung übergingen. Es war eine gesellschaftliche Verschiebung, nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf der Ebene der Gesellschaft insgesamt. Vor der Aufklärung wurde der Westen von der Kirche dominiert, die jeden Aspekt des Lebens bestimmte. Die Kirche war im Allgemeinen nicht sehr aufgeschlossen gegenüber Freidenkern oder Wissenschaftlern, da viele ihrer Ansichten als ketzereisch galten. Was meint ihr, wie wurden diese Ansichten von der Kirche damals betrachtet?

Ein Student: Als Verlust ihrer religiösen und gesellschaftlichen Dominanz, [da die neuen Denker und ihre Ideen die Autorität und Kontrolle der Kirche in Frage stellten.]

Imran Hussein: Genau, sie wurden als ketzerisch angesehen. Die Aufklärung war eine Zeit, in der sich viele Dinge veränderten. Es gab zahlreiche Ereignisse, die zu dieser Zeit beitrugen, aber wir müssen nicht zu sehr ins Detail gehen. Im 16. und 17. Jahrhundert fand die sogenannte wissenschaftliche Revolution statt, die zu einem Wandel hin zu Rationalismus und Empirismus führte. Diese Grundlagen wurden damals gelegt, und in der Aufklärung wurden sie weiter betont.

Es gab zwei dominierende Auffassungen des Glaubens an Gott, die in der Aufklärung entstanden: Deismus und Atheismus. Es war jedoch nicht das Atheismus-Modell, das wir heute kennen, etwa wie es von Richard Dawkins oder Sam Harris vertreten wird – ein harter, naturalistischer Atheismus. Aber die Ursprünge davon waren bereits zu dieser Zeit sichtbar. Wer von euch weiß, was Deismus bedeutet?

Ein Student: Deismus ist der Glaube an Gott, aber dieser Gott greift nicht in die Schöpfung ein. 

Imran Hussein: Genau. Als sich die Menschen von der Kirche abwandten, wandten sie sich im Grunde auch von Gott selbst ab. Der Mensch begann, das Zentrum des Universums zu werden – und das wollte man auch. Der Mensch wurde zu einer Art Gott und bestimmte, was richtig und falsch ist, was die Quellen des Wissens sind, wie wir Moral und Ethik verstehen und wie wir Politik betreiben.

Der Deismus war also eine bequeme Möglichkeit, an Gott festzuhalten, aber gleichzeitig nicht mehr von Gott regiert zu werden. Als Deist glaubst du an Gott, aber du glaubst an ein Konzept von Gott, dass Er zwar das Universum erschaffen und das System in Bewegung gesetzt hat, es dann aber sich selbst überlassen hat. Ab hier bestimmt der Mensch also selbst, wie er sein Leben und die Welt führen möchte. Diese Sichtweise passte also sehr gut zu ihrer Weltanschauung.

Viele der klügsten Denker der Aufklärung und auch nachfolgender Zeiten waren Deisten. Sie glaubten an eine deistische Vorstellung von Gott. Ich glaube, auch Einstein war ein Deist – er glaubte an einen Gott, der das Universum erschaffen hat, aber sich nicht in das tägliche Leben der Menschen einmischt. Es gab auch einige Atheisten, aber die Saat des Atheismus war damals schon gelegt. Man kann sehen, dass es eine Abkehr von der Kirche, von Gott und der Religion gab und eine Hinwendung zur materiellen, physischen Welt.

Ein anderer Wandel betraf die Auffassungen über Wissen. Wie gesagt, hier wurden Rationalismus und Empirismus als Weg zum Fortschritt vorangetrieben. Das war übrigens nicht alles schlecht. Man kann durchaus verstehen, warum die Menschen die Nase voll hatten, vor allem wenn man die Verfolgung durch die Kirche bedenkt. Einiges davon macht Sinn. Aber wie man so schön sagt: „Schütte das Kind nicht mit dem Bade aus.“ Sie wollten sich vom Christentum abwenden, aber einige von ihnen brachen völlig mit der gesamten Vorstellung von Gott und Religion.

Dann gab es auch politische Überzeugungen. Zum Beispiel John Locke. Wer von euch hat schon von John Locke gehört?

*Studentenkreis nickt*

Er war ein bedeutender Denker seiner Zeit und entwickelte einige grundlegende Ideen, die auch heute noch von Bedeutung sind. Besonders im Hinblick auf den Individualismus, der weiterhin ein zentraler Aspekt ist, besonders in liberalen Kreisen, bei denen das Individuum und das Selbst über die Gesellschaft gestellt werden – solange man anderen nicht schadet, während man das tut, was einem selbst am besten erscheint und was man tun möchte.

Locke brachte das Konzept der natürlichen Rechte vor, nach dem Menschen mit bestimmten Rechten geboren werden, wie der Freiheit. Interessant dabei ist, dass er bei der Rede von „natürlichen Rechten“ ursprünglich davon ausging, dass diese Rechte von Gott gegeben wurden. Die Kirche hielt früher solch grundlegende Rechte für eine Offenbarung von Gott, was bedeutete, dass niemand sie infrage stellen oder ändern konnte. Locke und andere Denker spielten jedoch ein Doppelspiel: Sie entfernten sich von der Kirche, behielten jedoch eine göttliche Ursprungserklärung für diese Rechte bei, da die Kirche ihren Aussagen nichts entgegensetzen konnte.

Dies führte auch zu der Idee eines Gesellschaftsvertrags. Locke vertrat die Auffassung, dass Menschen ihre Regierungen nach eigenem Willen gründen sollten, um ihre natürlichen Rechte zu schützen. So entstanden diese Konzepte, und sie alle drehten sich UM den Menschen FÜR den Menschen – damit Menschen bestimmen können, was gut und richtig ist, wie wir leben sollten, was in der Gesellschaft von Bedeutung sein sollte, wie wir die Gesellschaft regieren sollten, woran Menschen glauben sollten, was die richtigen Formen des bzw. welche die richtigen Wege zum Wissen sind und wie wir uns in dieser Welt weiterentwickeln werden. In diesen Jahrhunderten vollzog sich eine große Verschiebung weg von der Religion und dem Christentum hin zu einer säkularen, gottlosen, liberalen und modernen Weltanschauung. Diese neue Perspektive legte den Grundstein für das, was wir heute als „Moderne“ verstehen.

Während der Aufklärung herrschten jedoch keine kompromisslosen, naturalistischen Atheisten vor. Es gab Naturphilosophen, Deisten und Menschen, die an Gott glaubten, jedoch nicht an eine organisierte Religion. Während dieser Zeit legte sich jedoch der Grundstein für die vollständige Etablierung dieser Ideen.

Ein Student: Entschuldigung, darf ich fragen –war David Hume nicht ein überzeugter Atheist?

Imran Hussein: Ja, soweit ich mich erinnere, war er Rationalist.

Ein Student: Sein bester Freund, Adam Smith, war kein Atheist. Man kann also sagen, dass sie beide verschiedenen Ideen gegenüber aufgeschlossen waren, denn sie waren miteinander befreundet.

Imran Hussein: Ja, unter dem Deckmantel von Religionsfreiheit – der Idee, dass Menschen die Religion frei ausüben können – wuchs das Konzept, dass jeder die Freiheit haben sollte, zu glauben, was er wollte. Vergesst nicht: Dieser Gedanke entstand zu einer Zeit, als sich die westliche Welt zunehmend von der dominierenden christlichen Vorherrschaft entfernte, besonders ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. In dieser Zeit war der Fokus in der griechisch-römischen Welt auf Wissen, Lernen und Fortschritt gerichtet, aber ab dem 7. Jahrhundert verschob sich dieser Fokus hin zum Christentum. In der muslimischen Welt hingegen geschah genau das Gegenteil. Muslime machten bedeutende Fortschritte in Bereichen wie Wissenschaft, Mathematik und Technologie.

Diese Fortschritte gingen so weit, dass die Muslime die Werke der Griechen und Römer bewahrten, übersetzten und weiterentwickelten. Während der Westen sich in dem, was man als das „dunkle Mittelalter“ bezeichnet, befand, wurden in der islamischen Welt bedeutende Fortschritte gemacht. Deshalb wird von einigen Akademikern die Rolle betont, die Muslime und die muslimische Welt in der Aufklärung spielten. Sie waren es, die die antiken Werke bewahrten und weiterentwickelten. Wissenschaftler wie Ibn Haitham machten bedeutende Entdeckungen. In dieser Zeit begannen viele westliche Gelehrte, in die islamische Welt zu reisen, um die Sprache zu lernen, Wissen zu erwerben und es in den Westen zurückzubringen. Ein Großteil der Grundlagen der modernen Welt verdanken wir also der muslimischen Welt. Das erklärt, warum Iqbal, wenn er über den wissenschaftlichen Fortschritt im Westen spricht, die islamischen Wurzeln hervorhebt. Es ist nicht nur eine nicht-islamische Erfindung; sie stammt aus der muslimischen Welt.

Ideologische Auswüchse der Aufklärung

Mit der Aufklärung kamen jedoch im Laufe der Jahrhunderte viele Ideologien und ideologische Abspaltungen auf, die mit Ideen wie Gottlosigkeit, Liberalismus und Säkularismus zusammenhängen. Atheismus ist da offensichtlich, und wir haben auch schon über Hedonismus gesprochen. Wie würdet ihr Hedonismus definieren?

Ein Student: Es bedeutet, nur zu leben um sich zu vergnügen und alles genießen zu wollen, was man erleben kann. Es ist im Grunde eine sehr vulgäre Denkweise.

Imran Hussein: Genau, Crowley war ein Verfechter des Hedonismus. Feminismus ist ein weiteres Nebenprodukt dieser Bewegung. Welche anderen Ideologien und ideologische Abspaltungen fallen euch noch ein?

Ein Student: Naturalismus.

Ein anderer Student: Säkularismus.

Imran Hussein: Der Säkularismus ist eine Entwicklung aus all dem.

Ein Student: Ich habe eine Frage. Du hast John Locke erwähnt und seine Gedanken über natürliche Rechte. Zu seiner Zeit gab es in der Gesellschaft wahrscheinlich Sklaverei und andere Ungerechtigkeiten. Wie sah er diese Dinge?

Imran Hussein: Ja, die Sklaverei wurde schließlich abgeschafft.

Ein Student: Also er war gegen Sklaverei?

Imran Hussein: Ich weiß nicht, welche Position er damals genau vertrat, aber das Resultat der Aufklärung war, dass die Sklaverei letztlich abgeschafft wurde.

Ein Student: Liberalismus.

Imran Hussein: Ja, Liberalismus war die vorherrschende Ideologie, wie wir schon sagten.

Ein Student: Nihilismus.

Imran Hussein: Der Nihilismus war auch ein Ergebnis dieser Denkströmungen, ganz sicher.

Ein Student: Existentialismus.

Imran Hussein: Richtig, der Existentialismus war besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert populär, beeinflusst durch den Nihilismus.

Ein Student: Zionismus.

Imran Hussein: Ja, Zionismus auch. Wobei das eigentlich keine religiöse Philosophie ist, oder?

Ein Student: Das ist eine säkulare Ideologie.

Imran Hussein: Richtig, Zionismus ist an sich eine sehr säkulare Ideologie.

Ein Student: Nationalismus.

Imran Hussein: Nationalismus war ebenfalls ein großes Thema, das aus der Aufklärung hervorging.

Ein Student: Kolonialismus, weil sie sich irgendwie überlegen fühlten.

Imran Hussein: Genau, man sprach von der „Last des weißen Mannes“.

Ein Student: Das führte indirekt zu Kolonialismus.

Imran Hussein: Ich erinnere mich, dass ich letztes Jahr eine Aufgabe an der Universität darüber bearbeitet habe. Man sprach davon, wie sie sich tatsächlich als die Last fühlten, die „unzivilisierte“ Welt zu zivilisieren, weil sie sich überlegen fühlten. Sie glaubten, es sei ihre Pflicht, andere zu zivilisieren. Ich meine, die Absicht dahinter kennen wir nicht genau. Aber es herrschte viel Unwissenheit. Sie gingen davon aus, dass die restliche Welt unzivilisiert sei.

Ein Student: „White Saviorism“ (dt. „weißes Rettertum“) ist ein anderes Wort dafür. Sie hatten das Gefühl, dass alles, was sie für den globalen Süden taten, ein Gefallen für die anderen war. Es nährte ihr Ego mehr als alles andere.

Imran Hussein: Da steckt auf jeden Fall eine Menge Unwissenheit dahinter.

Ein Student: Kapitalismus.

Imran Hussein: Ja, absolut.

Ein Student: Weißt du, was das seltsame Paradoxon dabei ist? Einer der Denker der Aufklärung war Jean-Jacques Rousseau. Er führte eine Studie darüber durch, wie man am besten leben sollte. Ich weiß nicht, wie sie hieß, aber am Ende kam er auf das Konzept des „edlen Wilden“. Er meinte, das beste Beispiel dafür, wie man leben sollte, wären die Bergbewohner, die in den Bergen mit ihren Schafen in Einfachheit lebten. Er nannte sie den „edlen Wilden“ und sagte, dass dies die beste Lebensweise sei. Ich glaube, er hätte es anders formuliert, aber er lobte diese Lebensweise.

Imran Hussein: Man findet bei den Denkern der Aufklärung eine Vielzahl unterschiedlicher Ideen, denn es ging schließlich auch darum, Ideen zu teilen und zu diskutieren, so lange sie sich von Dogmen und organisierten Religionen lösten und den Menschen erlaubten, die Welt und die Menschheit zu verstehen und voranzubringen.

Voltaire war auch ein solcher Denker. Anfangs schrieb er wegen seiner Unwissenheit sehr negative Dinge über den Propheten Muhammed ﷺ, doch als er mehr über ihn erfuhr, änderte er seine Meinung und entwickelte sogar Theaterstücke über den Propheten.

Ein Student: Ist er als Muslim gestorben?

Imran Hussein: Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass er später in seinem Leben sehr positiv über den Propheten sprach, nachdem er mehr über ihn erfahren hatte. Es gab eine Zeit in der Geschichte, in der die Rolle der islamischen Welt in der Aufklärung unterdrückt wurde, aber einige Akademiker sprechen darüber und betonen diese Rolle.

Ich weiß nicht, ob ihr auch vor kurzem die Video-Ausschnitte von diesem Akademiker gesehen habt, die auf Twitter rumkursierten. Der Typ mit den langen Haaren, der über die Araber spricht.

Ein Student: Roy Casagranda, ja. Er ist Professor an der University of Texas.

Imran Hussein: Er ist brillant und liefert beeindruckende Beispiele. Und es ist eine Bestärkung für Muslime, denn viele Akademiker neigen dazu, nicht sehr weit in der Geschichte zurückzublicken, wo es nicht viel Positives gab, auf das man sich konzentrieren könnte. Wenn man aber wirklich weit zurückblickt, sieht man, dass vieles von dem, was wir heute haben, der muslimischen Welt und ihren Beiträgen zu verdanken ist.

Ein Student: In dem neuesten viralen Video-Ausschnitt schreibt er die Schwerkraft einem Muslim zu. Ich habe vergessen, wie er hieß, aber er geht durch verschiedene Erfindungen, und selbst das Konzept der Schwerkraft gab es in der arabischen Welt lange vor Newton.

Die Rolle von Wissenschaft und Fortschritt

Imran Hussein: Ja, die Schwerkraft, Optik, Medizin, Algebra – es gibt so viele Bereiche, in denen Muslime bedeutende Fortschritte gemacht haben. Und es ist interessant: Warum haben sie das alles getan? Was denkt ihr, warum sie das gemacht haben?

Ein Student: Um Allah näherzukommen.

Ein anderer Student: Um den Grund zu verstehen. Wenn im Qur’an steht: „Diejenigen, die argumentieren“, wollten sie Teil jener Gruppe sein, die Allah im Qur’an beschreibt. Sie wollten sagen: „Das sind wir.“

Ein weiterer Student: Wissensdurst.

Imran Hussein: Ja, der Islam fördert das Streben nach Wissen und hat das freie Denken niemals eingeschränkt. Der Islam hat die Wissenschaft nie als etwas abgelehnt, sondern im Gegenteil, er hat uns ermutigt, die Welt zu erforschen, uns mit Wissenschaft zu beschäftigen, nach Bildung zu streben und technologische Fortschritte zu machen.

Das Geniale daran ist, dass der Islam all diesen Dingen eine ethische Dimension hinzufügt. Denn wenn man die Ethik aus der Wissenschaft entfernt, führt das zu einer gefährlichen Welt. Wenn man sich die jüngste Entwicklung von Technologien und Waffen ansieht, etwa im Bereich der Eugenik und der künstlichen Intelligenz, stellt sich die Frage: Wo hört man auf? Wo zieht man die Grenze? In welchen Bereichen sollte man Funktionen von KI zulassen und wo nicht? Das sind tiefgreifende ethische Fragen. Wissenschaft und Ethik müssen zusammengehen. Ohne Gott als Grundlage bleibt nur die subjektive Meinung der Gesellschaft als ethischer Rahmen.

Der Islam hat es erlaubt, Wissen zu erlangen, und es innerhalb eines ethischen Rahmens gefördert. Viele Menschen, wie zum Beispiel Dawkins, behaupten heute, dass Religion rückständig ist und dass der Islam gegen den Fortschritt steht. Aber ist das wirklich wahr? Absolut nicht.

Ein Student: Ich habe das bereits bei Familientreffen erwähnt, aber dann wird einem entgegnet: „Was machen sie jetzt? Erzähl uns, was sie jetzt erreicht haben.“ Und dann fragst du dich: „Okay, was antworte ich darauf?“

Imran Hussein: Aber das ist kein Argument gegen den Islam selbst. Es ist eher ein Argument gegen den Zustand der Muslime heute.

Ein Student: Ich habe auch mal mit einem Familienmitglied über diese historischen Aspekte gesprochen und er sagte: „Aber viele dieser Gelehrten hatten wahrscheinlich ketzerische Ansichten, und deshalb hatten sie diesen Wissensdurst.“

Imran Hussein: Wenn du den Qur’an liest, weißt du, dass das nicht wahr ist. Der Qur’an ermutigt uns immer wieder, die Welt zu beobachten. In der aya von Sure al-Imran, 3:190 heißt es, dass wir tief über das Universum nachdenken sollen. Was bedeutet das? Das bedeutet im Grunde „Wissenschaft“. Allah fordert uns dazu auf, die Welt zu studieren. Ja, es gibt einen guten Grund dafür.

Ein Student: Sollte man also die Idee in Betracht ziehen, dass Wissenschaft die ultimative Wahrheit ist? Oft wird darauf hingewiesen, dass Muslime in der Wissenschaft große Fortschritte gemacht haben, aber sollten wir das heute wirklich als Beweis für die Wahrheit heranziehen? Nur weil Muslime in der Vergangenheit Fortschritte gemacht haben, bedeutet das nicht unbedingt, dass wir jetzt die Wahrheit haben. Ich denke, wir sollten uns von dieser Denkweise verabschieden und stattdessen die ganze Idee von Fortschritt und Modernität infrage stellen.

Ein anderer Student: Es könnte wie ein Minderwertigkeitskomplex wirken, wenn wir das Bedürfnis verspüren zu sagen: „Wir haben schon vorher Wissenschaft betrieben“, anstatt einfach auf der Grundlage von Grundprinzipien zu diskutieren.

Imran Hussein: Nein, wenn ich sage, dass Muslime jahrhundertelang in der Wissenschaft führend waren, meine ich nicht, dass wir das so betrachten sollten, als würden wir sagen: „Oh, das haben wir schon vorher gemacht“, oder einfach darauf hinweisen, dass „Muslime Wissenschaft betrieben haben“. Stattdessen sollten wir uns auf die Gegenwart konzentrieren und anerkennen, dass sich die Welt weiterentwickelt und die Zeit vergeht. Der Tag des Jüngsten Gerichts ist noch nicht gekommen. Was jetzt zählt, ist, was wir von diesem Punkt an tun. Das ist es, was letztendlich zählt. Natürlich sollten wir unsere Vergangenheit als Inspirationsquelle betrachten. Unsere Geschichte kann uns motivieren.

In gewisser Hinsicht haben sie recht – was machen Muslime jetzt? Wo stehen sie heute in der Welt? Aus dieser Perspektive haben sie ein Stück weit recht. Ich denke also, wir sollten unsere Vergangenheit als Ansporn betrachten. Muslime haben Großes erreicht, weil der Islam den Fortschritt innerhalb eines Rahmens ermöglichte und förderte. Es ging nicht nur darum, das Universum zu studieren, um des Wissens oder Fortschritts willen. Nein, es gab immer einen höheren Zweck.

Es gibt noch eine aya im Qur’an, in der Allah sagt: „Und Allah hat euch aus dem Schoß eurer Mütter hervorgebrachtohne dass ihr etwas wusstet, und Er gab euch Ohren und Augen und Herzen, auf dass ihr danken möget.“ [16:78] Dieser Vers ist sehr tiefgründig.

Das Wort, das in diesem Vers für den Intellekt verwendet wird, ist sehr kraftvoll. Es wird an mehreren Stellen im Qur’an erwähnt und hat eine sehr starke Wirkung. Allah sagt uns, dass Er uns aus dem Mutterleib geholt hat, ohne dass wir etwas wussten, und uns dann Gehör und Sehvermögen gegeben hat – was sind das?

Ein Student: Sinne.

Imran Hussein: Genau, Sinne. Und Verstand. Warum? Damit wir dankbar sind.

Bertrand Russell sagte einmal, und ich sage das in meinen eigenen Worten: „Wissenschaft ist der Versuch, durch Beobachtung und darauf basierende Schlussfolgerungen bestimmte Fakten über die Welt zu entdecken.“ Genau das hören wir in dieser aya. Allah gab uns Gehör und Augenlicht, damit wir nachdenken und dann logisch über das nachdenken können, worüber wir nachgedacht haben, und dafür dankbar sein können. Das Ziel ist jedoch ein anderes. Aus islamischer Sicht werden wir dazu ermutigt, Wissen zu erlangen, die Welt zu erforschen und neue Technologien zu entwickeln. Aber mit welchem Ziel? Wir sollten uns auf ein einziges Ziel konzentrieren, nämlich Allah anzubeten. Durch das Studium des Universums kommen wir Allah näher und können Ihn besser anbeten. Es hilft uns auch, neue Technologien zu entwickeln, die der Menschheit zugutekommen, was wiederum eine Form der Anbetung ist – die Welt zu verbessern ist eine Form der Anbetung. Aus islamischer Sicht ist es also ein sehr starker Anreiz, sich in der Wissenschaft einzubringen und sich mit all diesen verschiedenen Wissenschaften zu beschäftigen.

Doch aus der materialistischen, gottlosen, naturalistischen Perspektive gibt es keinen Gott, keinen Schöpfer – alles ist Zufall, und du bist ein Zufall. Also, warum Wissenschaft? Warum studieren? Warum all das in deinem Leben tun? Aus welchem Grund?

Ein Student: Ist es eine gute Idee, zu argumentieren, dass all diese Fortschritte eher negativ als positiv zu bewerten sind?

Imran Hussein: Das hängt ganz davon ab, wen man fragt. Es gab sowohl negative als auch positive Aspekte. Wir können die positiven Aspekte der Wissenschaft und Technologie nicht leugnen, aber es gibt auch viele negative Auswirkungen.

Ein Student: Ich möchte nur kurz auf diesen Artikel im Guardian hinweisen, in dem es um Stephen Hawking geht. Einer seiner Forschungskollegen sagte tatsächlich, dass er darüber nachdachte, seine gesamte Arbeit „A Brief History of Time“ zu verwerfen, weil er ein Problem damit hatte, zu verstehen, wie das Universum Bedingungen schaffen konnte, die so perfekt für das Leben sind. Er sagte: „Stephen sagte mir, dass er jetzt dachte, er hätte sich geirrt“, und so arbeiteten sie 20 Jahre zusammen, um eine neue Theorie des Kosmos zu entwickeln, die besser erklären könnte, wie das Leben entstanden sein konnte. Diese Dinge beunruhigten sie also. Ich meine, wir reden hier von ihrem [dem der Wissenschaftler] besten Mann, und selbst er konnte nicht begreifen, wie alles so perfekt sein konnte.

Imran Hussein: Weil es nicht in sein Weltbild passte.

Ein Student: Ganz genau.

Imran Hussein: Das ist ein perfektes Beispiel dafür.

Ein Student: Um noch einen weiteren Punkt anzusprechen: Ich habe einen Video-Ausschnitt von Chris Christopher Hitchens gesehen, in dem er sagte, das beste Argument für Gott sei die Feinabstimmung des Universums und dass alles perfekt sei. Für mich persönlich zählt das dagegen zu den schwächsten Argumenten und ich denke, genau das ist auch der Unterschied zwischen den Weltanschauungen. Für sie, weil sich bei ihnen alles um Wissenschaft dreht und alles beobachtet werden muss – und weil die Feinabstimmung beobachtet wird wie der goldene Schnitt, die menschliche Anatomie usw. – ist das für sie ein solides Argument. Aber für uns in der Dawa… ich weiß nicht, wie es euch geht, Brüder, für mich steht dieses Argument eher ganz weit unten auf der Liste.

Ein anderer Student: Ich denke, das zeigt die Kraft der Intuition, das eigene Denken. Wenn du alleine bist und über all diese Dinge nachdenkst, denke ich, dass das überzeugender ist als—

Imran Hussein: Und ganz ehrlich, Bruder—du hast recht. Ich meine, wenn du ein ernsthafter Wissenschaftler bist und all diese Muster siehst, all diese Konstanten und Feinabstimmungen bemerkst, dann ist es eine Frage der Ehrlichkeit. Was wirst du daraus schließen? Wenn du es ehrlich betrachtest, wirst du erkennen, dass das Universum nicht zufällig so funktioniert. Und dann gibt es jemanden wie Dawkins, der es als Illusion von Design bezeichnet. Er sieht es, er beobachtet es, aber er will es nicht akzeptieren. Er sagt, es sei eine Illusion, weil es nicht in sein Weltbild passt.

*wendet sich zu einem anderen Studenten* Wolltest du noch etwas hinzufügen?

Der Sinn des Lebens aus atheistischer Brille

Ein Student: Ja, ich wollte gerade eine Frage beantworten, die du vorhin gestellt hast. Du hast gefragt, wie man jemanden aus einer rein materialistischen Sicht motivieren kann, wissenschaftliche Fortschritte zu machen. Denn aus islamischer Sicht haben wir schließlich Allah hinter uns, der uns auch nach dem Tod dafür belohnen wird. Ich habe also versucht, mich in einen Atheisten hineinzuversetzen, das war schon vor ein paar Monaten. Ich habe mir gesagt, „Ich möchte jetzt wie ein Atheist denken und sehen, ob ich meinem Leben immer noch einen Sinn geben kann.“ Und ich will ehrlich zu euch sein: ich habe immer noch einen Sinn in meinem Leben gefunden.

Imran Hussein: Was war der Sinn in deinem Leben?

Ein Student: Zum Beispiel wollte ich meine Frau mit Respekt behandeln, für meine Familie sorgen und anderen helfen. Ich hatte immer noch diese Gefühle, verstehst du? Dieses atheistische Paradigma hielt mich nicht davon ab, das zu tun, und es wird mich auch nicht davon abhalten, Wissenschaft zu betreiben.

Imran Hussein: Ja, das hat DICH nicht davon abgehalten, DEINEM Leben einen Sinn zu geben. Aber das ist der Unterschied. Es ist subjektiv. Ein Atheist kann sich seinen eigenen Sinn geben, aber das ist nicht der letztendliche Sinn.

Ein Student: Für eine materialistische Person ist es also dasselbe, warum sie in der Wissenschaft Fortschritte machen will?

Imran Hussein: Ja, sie kann sich selbst einen Sinn geben, aber letztlich gibt es keinen wahren Sinn ohne Gott. Denn wenn alles Zufall ist, warum dann überhaupt leben? Warum Wissenschaft betreiben? Warum etwas tun, wenn es keinen höheren Sinn gibt?

Ein Student: Aber wir geben uns selbst einen Sinn, indem wir an Allah glauben. Ist das nicht dasselbe?

Imran Hussein: Nein, wir beginnen bei Allah. Das ist ein Unterschied. Das bedeutet: Wenn man zu dem Schluss kommt, dass Allah existiert und dass der Qur’an eine Offenbarung von Allah ist, dann ist das, was der Qur’an sagt, notwendigerweise wahr. Wenn Allah uns also sagt, dass Er uns mit einem bestimmten Sinn erschaffen hat, dann ist das letztendlich wahr. Es ist nicht wahr in dem Sinne, dass ich mir diese Bedeutung selbst gebe, etwa weil ich sie mir selbst ausdenke oder weil ich einfach nachdenke und mir das irgendwie einfällt. Das ist nicht mehr der Fall, denn der Sinn entspringt aus der göttlichen Quelle. 

Ein Student: Warum fragen wir dann die Menschen, woher sie ihre Moralvorstellungen beziehen? Denn wir glauben, dass unsere Moralvorstellungen von Gott kommen, während wir sagen, dass sie nicht an einen Gott glauben und ihre Moralvorstellungen daher von nirgendwoher beziehen können—aber genau das tun sie.

Imran Hussein: Nein, nein, ich drücke es mal so aus: Du kannst zwar moralisch sein, du kannst intuitiv aus einer fitri-Perspektive [auf der fitra basierend] handeln—wobei dieses Wort aus einer gottlosen Perspektive nicht viel bedeutet. Aber sagen wir aus einer intuitiven Perspektive werden sie verstehen oder fühlen, dass einige Dinge richtig und andere Dinge falsch sind. Und sie können sich entscheiden, wonach sie handeln, auch wenn sie das vielleicht nicht tun, aber ihr Handeln ist nicht objektiv begründet, sondern nur subjektiv. Das bedeutet: Wenn jemand sich dafür entscheidet, nicht nach dieser Intuition bzw. fitra zu leben, kann man nicht sagen, dass diese Person falsch liegt, weil sie wiederum nicht nach den Standards lebt, die ich für gut halte. Das alles ist subjektiv. 

Ein Student: Aber letzten Endes wird die materialistische Perspektive dennoch Fortschritte ermöglichen, verstehst du?

Imran Hussein: Was für Fortschritte? Wir reden hier von Moral.

Ein Student: Ja, aber ich meine, du hast doch vorhin gefragt und gesagt: Muslime haben den Islam, der sie motiviert, wissenschaftliche Experimente um Gottes willen durchzuführen usw. Wie rechtfertigt also eine materialistische Person ihre Motivation? Wie funktioniert das? Das meine ich damit, dass sie eben daher ihre Moral beziehen.

Imran Hussein: Ja, sie können sich selbst bestimmte Motivationen ausdenken. Jemand wie Dawkins könnte sagen: „Der Sinn meines Lebens besteht darin, das Universum zu erforschen, und das bereitet mir Freude.“ Sicherlich kann ihm das Freude bereiten, aber dass darin sein Sinn besteht, hat er sich selbst nur eingeredet. Es ist nicht die letztendliche Bedeutung, sondern nur etwas, das er sich ausgedacht und für sich selbst erfunden hat. Letztendlich wird das nichts bedeuten, wenn er tot ist. Letztendlich steckt nichts dahinter. Laut diesem subjektiven Sinn hat er richtig gelebt und ist richtig gestorben, ob er sich nun dafür entschieden hat, ein Vergewaltiger oder ein Physiker zu sein. Dazwischen gibt es buchstäblich keinen objektiven Unterschied.

Ein Student: Okay, aber seine Weltanschauung mag diesen Bereich vielleicht nicht erklären, aber dafür andere Dinge schon.

Imran Hussein: Ja, sie erklärt vielleicht einen kleinen Teil der Welt, damit er einfach weitermacht und motiviert ist—ich verstehe, was du meinst. So gesehen könnte jeder sagen: „Ab heute ist es mein Ziel, Wohltätigkeitsarbeit zu leisten. Ich werde ein Unternehmen gründen und das gesamte Geld, das ich verdiene, für wohltätige Zwecke spenden. Das ist der Sinn meines Lebens.“ Diese Person könnte mit diesem Sinn zwar ein gutes Leben führen, es genießen und sich erfüllt fühlen usw., kein Zweifel. Aber letztendlich hat sie sich das nur selbst ausgedacht. Sie hat sich selbst belogen, sich etwas ausgedacht und dann danach gelebt, und das war’s, nicht mehr und nicht weniger. Objektiv betrachtet gibt es nichts, was diesen Sinn untermauern bzw. begründen könnte. 

Ein Student: Wenn du also deine Überzeugungen begründen kannst, werden sie dann objektiv? 

Imran Hussein: Das kommt ganz darauf an, wie du es begründest.

Ein Student: Ist das nicht wieder subjektiv, was du gerade gesagt hast? Ich meine, dass es darauf ankommt.

Imran Hussein: Nein, denn es gibt einen Unterschied zwischen einer Höchsten Autorität, Gott, und einer menschlichen Autorität. 

Ein Student: Aber es gibt viele Menschen, die an verschiedene Glaubenssysteme glauben, die Gott miteinschließen. Wäre ihre Version dieser Moral dann nicht gerechtfertigt?

Imran Hussein: Nein, in diesem Fall würde es wieder auf eine Grundlagendiskussion mit dieser bestimmten Person hinauslaufen, bei der man ergründet, was ihre Weltanschauung ist, ob ihre Religion wahr ist usw. Dann sind wir wieder bei solchen Fragen.

Ein Student: Ah okay, verstehe. Man geht dann wieder den Dingen auf den Grund.

Imran Hussein: Richtig, man packt es an den Wurzeln.

Ein Student: Okay, verstehe. Das ergibt durchaus Sinn.

Imran Hussein: *wendet sich zu einem anderen Studenten* Bruder, du wolltest etwas sagen?

Ein Student: Du [an den vorigen Studenten gerichtet] hast gesagt, dass du versucht hast, dich in die Perspektive eines Atheisten zu versetzen und den Sinn des Lebens zu finden, und dass du ihn in der Familie bzw. darin gefunden hast, hart zu arbeiten, um eine Zukunft für deine Familie, deine Frau aufzubauen und all das. Aber letztendlich ist der Sinn, den du dir gegeben hast, vergänglich. Er kann jede Sekunde verschwinden. Zum Beispiel hast du Geld – das kann verschwinden. Du hast einen Job, mit dem du wirklich zufrieden bist – der kann verschwinden. Deine Familie kann dich verlassen – inshaAllah passiert dir das nicht, Bruder – aber mein Punkt ist, dass das, was du dir als Bedeutung gegeben hast, zeitlich begrenzt und endlich ist und verschwinden kann. Aber wenn Allah der Sinn deines Lebens ist, dann bleibt dieser Sinn immer da, tief in deinem Herzen, egal, was dir in dieser Welt widerfährt. So wie Ibn Taymiyyah sinngemäß sagte, als man ihn inhaftierte, als sie ihm alles nahmen, ihn auspeitschten, ihn verletzten: „Das Paradies ist in meinem Herzen.“ Das ist die ultimative Bedeutung, die transzendent ist. 

Der vorige Student: Jazakallahu khayr für diese Erklärung.

Imran Hussein: Nur zur Klarstellung: Ein Atheist kann ein „sinnvolles“ Leben führen. Aber es kommt darauf an, wie wir „Sinn“ definieren. Im subjektiven Sinne mag er sich selbst einen Sinn erfinden, der ihm Freude bereitet und ihm reicht, weil er für ihn „funktioniert“. Klar, das kann er machen. Er kann seinem Leben gewissermaßen einen Sinn geben, aber es gibt keinen LETZTENDLICHEN Sinn in seinem Leben.

Ein Student: Und wenn er seinem Leben einen Sinn gibt – und ich möchte das nicht in die Länge ziehen, weil wir stundenlang darüber diskutieren könnten – und wenn alles in seinem Leben gerechtfertigt und er damit zufrieden ist, welchen Grund sollte es dann geben–

Imran Hussein: Was meinst du mit „gerechtfertigt“?

Ein Student: Im Sinne davon, dass es für ihn subjektiv gerechtfertigt ist.

Imran Hussein: Du meinst also, dass er sich einfach damit zufrieden gibt, dass er seinen eigenen Sinn ausgedacht hat.

Ein Student: Ja, er ist damit zufrieden und er ist diesbezüglich auch nicht arrogant oder so. Er lebt einfach ein ganz normales Leben. Welchen Grund gibst du ihm dann, zum Islam zu kommen?

Imran Hussein: Na ja, ich sage ihm einfach ganz offen und ehrlich, dass er sich selbst belügt. Ich weiß, das klingt hart. Aber das ist nun mal die Realität. Es ist wie bei Kindern, die Rollenspiele machen und sich verkleiden. Sie spielen einen Arzt oder Polizisten, ziehen sich entsprechend an und benehmen sich auch so, aber sie sind eben nicht wirklich Arzt oder Polizist. Und genau das ist, was auch so eine Person tut. Sie belügt sich selbst. Es ist nur ein Rollenspiel, Bruder.

Ein Student: Aber was wäre, wenn ich—entschuldigt, dass ich hier gerade den Anwalt des Teufels spiele. Ich glaube an all das, was du sagst, nur um das klarzustellen. Aber was wäre, wenn ich sagen würde: „Okay, ich glaube jetzt an Gott“und führe trotzdem dasselbe, erfüllte Leben wie zuvor? Ich habe einfach gesagt: „Ich glaube an Gott“, aber ich brauche dann keinen Propheten oder den Qur’an, um mir zu sagen, wie ich leben soll, denn ich LEBE ja bereits ein erfülltes Leben.

Imran Hussein: Das geht dann wieder in die Richtung des Deismus. Und das ist ein Problem, das ich auch bei Muslimen sehe. Viele Muslime sagen: „Ich glaube an Gott“, aber sie leben einfach so weiter, als gäbe es Gott nicht. Aber man hat erst dann einen Sinn im Leben, wenn man erkennt, was Gott gesagt hat, und dann auch danach lebt. Das ist leider bei vielen Menschen der Fall, Bruder. Sie sagen zwar, dass sie an eine höhere Macht glauben, aber belassen es dabei und wundern sich dann: „Was stelle ich mit meinem Leben an? Was möchte ich machen? Was ist der Sinn meines Lebens?“ So funktionieren die meisten Menschen, und in gewisser Weise sind sie wie Atheisten. Sie führen ein Dasein, das sich nicht von dem eines Atheisten unterscheidet, der sagt, dass es keinen Gott gibt. Ihr Leben ist genauso bedeutungslos wie das eines Atheisten, weil „Gott existiert, und Punkt“. Das ist ein Problem.

Erst, wenn du erkennst: „Gott existiert und Gott hat mich aus einem bestimmten Grund erschaffen. Er hat mir einen Sinn gegeben und ich werde nach diesem Sinn leben“, kommt die objektive Bedeutung, die intrinsische Bedeutung ins Spiel. Hier setzt die wahre Bedeutung in deinem Leben ein – dass deine Existenz etwas bedeutet. Ein Atheist kann sich selbst etwas ausdenken. Er kann sich selbst belügen und es mag für ihn funktionieren, es mag ihm weiterhelfen. Das ist wie, wenn jemand Gras raucht – es mag ihm ein gutes Gefühl geben, er mag „high“ dadurch werden, es mag ihn für eine Weile halluzinieren lassen… aber es ist nicht real. Es ist nur eine Droge. Es ist nur etwas, das er sich selbst eingeredet hat. Er spielt nur damit. Letztendlich ist sein Leben bedeutungslos, wenn Gott und Religion bzw. Offenbarung in seinem Leben fehlen, um es ganz konkret zu sagen.

Deshalb bezeichne ich auch viele Muslime als „muslimische Nihilisten“. Ihr werdet noch auf viele von ihnen treffen, insbesondere in der Weltanschauung, in der wir heute leben. Ich habe dieses Problem bei vielen Muslimen beobachtet, weil die vorherrschende Weltanschauung für sie nicht der Islam ist. Sie sind Muslime, aber die vorherrschende Weltanschauung ist die säkulare liberale Moderne.

Ein Student: Absolut! Ich bin so aufgewachsen.

Imran Hussein: Ja, ich auch. Viele Menschen sind so aufgewachsen.

Ein Student: Ich denke, der Islam beschränkt sich nicht nur auf all die Dinge, die wir erwähnt haben. Der Islam beantwortet auch die Frage nach den unsichtbaren Dingen. Wenn wir den Islam als Religion annehmen, sollten wir uns ihm vollständig hingeben. Allah (swt) sagt, dass man sich nicht einfach aussuchen kann, was einem gefällt, und sich damit zufrieden gibt und das andere beiseite lassen kann. Genau das boten doch die Quraisch in Mekka dem Propheten ﷺ an: „Wir werden an einem Tag deine Religion praktizieren und am nächsten Tag praktizierst du unsere, und wir machen das immer im Wechsel.“ Der Prophet lehnte das ab. Wir können nicht mit dem Islam spielen. Wir akzeptieren Allah (swt) als unseren Herrn, als unseren Gott, und folgen nicht unseren Begierden. Allah lehnt es ab, dass wir unseren Begierden folgen, denn wenn wir das tun, führt uns das vom rechten Weg in die Irre.

Imran Hussein: Ja, und es macht das Leben sinnlos. Das ist ein sehr schöner Punkt, dass der Islam ein vollständiges System ist: Man kann sich nicht nur einzelne Aspekte davon herauspicken, sondern man akzeptiert den Islam als ganzheitliche Weltanschauung. Und wenn man das einmal von ganzem Herzen und aufrichtig getan hat, formt er die eigene Realität – die Art und Weise, wie man die Welt sieht, wie man mit Menschen umgeht, wie man mit sich selbst umgeht, mit Allah.

Ein Student: Man nimmt den Islam vollständig an. Es gibt klare Anweisungen, wie man den Islam praktiziert.

Ein anderer Student: Bedeutet das auch, dass all diese Ideologien – zum Beispiel der logische Positivismus – von Menschen geschaffen und die Kriterien von ihnen festgelegt wurden? Würdest du dann sagen, dass all das nur ausgedacht ist, wie Geschichten, die sie sich selbst einreden?

Imran Hussein: Nein. Wenn du das in Bezug auf Weltanschauungen meinst, gibt es ja noch andere Weltanschauungen. Ich würde es so ausdrücken, dass es in einer bestimmten Weltanschauung vielleicht etwas Wahres gibt, aber auch Dinge, die falsch sind. Sicher, es mag etwas Wahres am Materialismus als Weltanschauung geben – nicht als Philosophie bzw. als Lebensweise, sondern als Weltanschauung, d. h. dass es die physische Welt gibt und sie existiert. Die physische Welt besteht aus Atomen und Molekülen, physischen Dingen, aus grundlegenden [niederen] Dingen, ja vielleicht. Darüber streiten sich die Wissenschaftler auch heute noch, nicht wahr? Aus welcher Grundlage besteht sie? Was ist diese Grundlage? Idealisten und Materialisten sind sich da ständig uneins.

Aus islamischer Sicht wäre das eine andere Diskussion, wie wir die physische Welt, in der wir leben, verstehen, und was ihre Natur ist. Ich habe mich nicht näher damit befasst, Bruder, daher kann ich auch dazu nichts sagen. Aber der Punkt ist – ohne zu sehr abzuschweifen – dass es in Weltanschauungen sicherlich einige Wahrheiten und einige Unwahrheiten geben kann.

Ein Student: Aber sie sind offensichtlich nicht die letzte/ultimative Wahrheit.

Imran Hussein: Die Weltanschauungen? Nein. Denn eine Weltanschauung ist eine Zusammensetzung verschiedener Ideen und Überzeugungen; sie ist nicht nur eine „einzige Sache“.

Ein Student: Aber wenn wir der Sache auf den Grund gehen, ist es doch so, dass weil sie von Menschen gemacht ist nicht die absolute Wahrheit ist, oder?

Imran Hussein: Ja, ich meine—wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch sich eine Weltanschauung ausdenkt, die zu 100 % mit der islamischen Weltanschauung übereinstimmt?

Ein Student: An die Leute, die sich dieses Video ansehen – falls ihr keine Muslime seid: Wir als Muslime glauben ja nicht einmal, dass der Prophet ﷺ derjenige war, der den Islam „erfunden“ hat. Er kam von Gott.

Imran Hussein: Er war eine direkte Offenbarung.

Ein Student: Er ist nicht von Menschen gemacht.

Imran Hussein: Ja, zu 100%.

Die Gemeinsamkeit der westlichen Ideologien

Gut, machen wir weiter. Ich denke, wir hatten heute eine gute diskussionsbasierte Sitzung, aber wir haben nicht so viel geschafft. Also nochmal kurz zurück zum eigentlichen Thema:

Wir haben gesagt, dass wir von der Aufklärung aus heute hier, in der Moderne bzw. Postmoderne gelandet sind. Im Laufe der Jahrhunderte sind andere Ideologien und ideologische Abspaltungen entstanden, die alle im Grunde Ableger dieser liberalen modernen Weltanschauung sind. Ob Atheismus, Hedonismus, Materialismus oder Feminismus – diese Ideologien und ideologische Abspaltungen haben alle etwas gemeinsam. Was denkt ihr, was das ist?

Ein Student: Dass es alle Ideologien sind.

Imran Hussein: Ja klar, aber was haben sie noch gemeinsam?

Ein Student: Liberalismus?

Imran Hussein: Nein, sogar der Liberalismus selbst.

Ein Student: Die Ablehnung Gottes.

Imran Hussein: Die Ablehnung Gottes, korrekt! Es gibt keinen Gott, es gibt keinen Schöpfer. Einige Weltanschauungen können eine deistische Vorstellung von Gott zulassen, aber das war’s dann auch schon. Ihr Standpunkt wäre also so etwas wie Naturalismus: Dieses ganze physikalische System ist ein geschlossenes System. Alles, was darüber hinausgeht und außerhalb dieses Systems liegt, hat nichts mit diesem System zu tun—selbst WENN es etwas darüber hinaus gibt.

Die Krise des Westens

Daraus ergibt sich die Krise, die ich als „Krise des Westens“ bzw. „Krise des modernen Westens“ bezeichne. Wir haben viele Dinge besprochen, die eine Rolle dabei spielen, aber ich habe vier „Hauptkrisen“ der modernen Welt ausgearbeitet:

  1. die Krise des Wissens
  2. die Krise der Bedeutung
  3. die Krise der Identität
  4. die Krise der Moral

Jedes dieser Themen haben wir bereits in gewissem Umfang diskutiert, aber das hier sind wie gesagt die vier Themen, die sich herauskristallisiert haben, auf deren zentrale Fragen die Menschen keine Antworten haben. Sie wissen nicht, wie sie diese beantworten sollen, und gerade in der Postmoderne – von der einige sagen, dass wir uns genau in dieser Ära befinden – sind diese Fragen noch schwieriger zu beantworten. Besonders die Themen Identität, Bedeutung und Moral sind sehr verworren. Viele wissen nicht, wer sie sind oder was der Ursprung ihres Wissens ist. In der Postmoderne lehnen viele die Konzepte von Empirismus und Rationalismus ab, weil sie die Wahrheit nach ihren eigenen Vorstellungen definieren. Wahrheit wird so subjektiv, was zu weiteren Problemen führt.

Abschließend denke ich, dass Nietzsche – obwohl es viele Aspekte gibt, bei denen man ihm widersprechen könnte – tiefgründige Aussagen gemacht hat. In seinem Werk Die fröhliche Wissenschaft gibt es das berühmte Gleichnis vom „tollen Menschen“. In diesem sagt er „Gott ist tot“. Viele Atheisten stimmen ihm zu, ohne jedoch zu verstehen, was er wirklich meinte.

Die Implikationen von F. Nietzsches „Gott ist tot.“

Der Bruder wird euch jetzt das Gleichnis bzw. einen Teil des Gleichnisses vorlesen, und ich möchte, dass ihr gut zuhört und aufpasst und mir danach sagt, was Nietzsche eurer Meinung nach damit sagen wollte.

„Wohin ist Gott?“ rief er. „Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie konnten wir das Meer austrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Fühlt nicht der leere Raum uns an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden?“

Der tolle Mensch schwieg und sah seine Zuhörer wieder an; auch sie schwiegen und blickten ihn befremdet an. Endlich warf er seine Laterne zur Erde, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh“, sagte er dann, „ich bin noch nicht an der Zeit“1

Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Sterne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Sterne – und doch haben sie sie getan!“

Imran Hussein: Also, was haltet ihr davon?

Ein Student: Der tolle Mensch antwortet auf eine Art und Weise, dass er die Behauptung von jemandem, dass es keinen Gott gibt, zurückweist. Er sagt im Grunde, dass es unmöglich ist, Gott zu töten oder dies auch nur zu behaupten oder darüber nachzudenken, weil es Unsinn ist.

Imran Hussein: Das ist eine gute Zusammenfassung, Bruder, mashaAllah. Aber was denkst du, was Nietzsche noch sagen möchte?

Ein Student: Im Grunde sagt er, dass es zu früh ist, zu behaupten, dass Gott tot ist. Denn der Mann kommt und sagt: „Gott ist tot“, aber dann fragt er: „Habt ihr diese Probleme schon gelöst?“ und „Habt ihr schon über all das nachgedacht?“ Die Antwort lautet nein. Die Schlussfolgerung war also zu früh.

Imran Hussein: Okay, was noch?

Ein Student: Aus dem ersten Teil habe ich zumindest verstanden, dass, wenn wir Gott von der Bildfläche entfernen, auch das „Warum“ wegfällt. Somit hat es auch keinen Sinn, das „Wie“ zu tun, also überhaupt etwas zu tun. Es gibt keinen Grund, warum wir „den Horizont mit dem Schwamm wegwischen sollten“ usw. Das ist vielleicht auch der Grund, warum der Mann am Ende wieder gegangen ist, weil es keinen Grund gibt. Er wird an einem anderen Tag zurückkommen, wenn auch der Grund zurückkehrt, und dieser wird für ihn zu einem Anker, um all diese Dinge zu tun.

Imran Hussein: Genau, das ist Nihilismus. Sonst noch etwas?

Ein Student: Ich denke, aufbauend auf dem, was bereits gesagt wurde, ist es fast so, als ob die Menschen Gott in einem winzigen Aspekt ablehnen, nämlich in ihrer Ideologie, in einem bestimmten Bereich. Aber der Mann spricht offensichtlich das Meer, den Horizont usw. an. Also es ist fast so, als würde er uns daran erinnern, dass wir nicht einmal annähernd 0,1 % der Macht besitzen, die Gott besitzt, und dass wir als Menschen daher so weit davon entfernt sind, Gott zu töten, wie man es überhaupt nur sein könnte. Es ist, als würde er alles „verkleinern“ und das Gesamtbild zeigen.

Ein anderer Student: Darf ich noch eine letzte Sache hinzufügen? Denn ich lese es gerade nochmal am Handy. Will der Mann quasi sagen: „Sind wir Menschen etwa diejenigen, die das Universum kontrollieren?“ Fragt er das wirklich? Denn an einer Stelle sagt er: „Was haben wir getan, als wir diese Erde von ihrer Sonne losgekettet haben? Wir haben gar nichts getan!“ Er fragt im Grunde: „Wem gehören die Mächte eigentlich?“

Imran Hussein: Ob er das impliziert? Vielleicht.

Ein Student: Ja, es scheint, als würde er fragen: „Bewegt es sich jetzt oder bewegen wir uns jetzt weg davon?“ Wer macht das alles? Ich reime mir das gerade zusammen—

Ein anderer Student: Ich hätte auch noch einen Punkt, aber vielleicht ist das auch nur Geschwafel. Er hat ja die Laterne zerbrochen. Und Licht kann als ein Sinn bzw. Ziel oder eine Vision dargestellt werden, auf die man sich freuen kann. Und da man aber Gott getötet bzw. Gott von der Bildfläche gestrichen hat, astaghfirullah, ist das Licht jetzt schwächer geworden, und deshalb ist er gegangen.

Imran Hussein: Ja, er spricht ja auch davon, Laternen hervorzuholen, und dass man das überbrücken muss. Mit dem „Tod Gottes“ geht es also von Licht zu Dunkelheit.

Es ist sehr interessant, denn im Wesentlichen hebt er aus meiner Perspektive, wenn ich das lese, hervor: Wenn du dich von Gott abwendest, wirst du deine Orientierung verlieren. Wohin bewegt sich die Erde? Nach links? Nach rechts? In welche Richtung? Du wirst jegliche Orientierung verlieren. Ohne Gott kannst du keinen Sinn für die Realität haben. Wer bist du? Was bist du? Wohin gehst du? Was ist der Sinn des Ganzen? Diese tiefgründigen existenziellen Fragen, die die Menschen beschäftigen, wirst du ohne Gott nie beantworten können. 

Und es scheint, als ob er damit sagen will, dass die Menschen, angestachelt von der Aufregung, sich von der Kirche und dem Dogma zu befreien, unreif von Gott abgefallen sind und nun denken, dass alles in Ordnung sei, weil sie ja in Wissenschaft und Technologie Fortschritte machen. Aber was sie nicht erkennen, ist, dass unter der Oberfläche alles verfault – wie ein Apfel, der von innen verrottet. Ethik, Moral, Existenz, Bedeutung – all diese Dinge können nicht mehr beantwortet werden. Diese grundlegenden Fragen, die uns als Menschen ausmachen – Ethik, Moral, wer wir sind, was wir sind, wohin wir gehen – die Antworten auf diese Fragen hast du verloren, indem du dich von Gott abgewandt hast.

Und die Stelle, wo er sagt: „Ich bin zu früh gekommen“—es ist fast so, als würden diese Menschen es noch nicht begreifen. Die Menschen erkennen nicht, welche Folgen es hat, sich von Gott abzuwenden, und deshalb sehen sie ihn als diesen Verrückten. Dabei ist er in Wirklichkeit nicht derjenige, der verrückt ist. Er ist derjenige, der eigentlich sagt, dass alle anderen, mit denen er spricht, verrückt sind, weil sie sich von Gott abgewandt haben und die Folgen dessen nicht erkannt haben. Und jetzt, nachdem Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte vergangen sind, sehen wir die Folgen davon.

Moderne, Technologie, Wissenschaft, Fortschritt – all das ist ja schön und gut. Aber was macht uns zu Menschen? Auf diese grundlegenden Dinge, diese existenziellen Fragen, gibt es keine Antworten. Wir sind schlimmer als Tiere.

Ein Student: Warum war Nietzsche dann Atheist, wenn er glaubte–

Imran Hussein: Er war eine widersprüchliche Persönlichkeit, Bruder. Wenn man seine Werke liest, scheint es viele Widersprüche zu geben. Es wirkt so, als wäre er frustriert gewesen. Ich denke, Muhammad Iqbal  hat ihn ziemlich gut verstanden. Einige Akademiker sagen, dass Iqbal Nietzsche nicht wirklich studiert hat, aber ich habe mich über Iqbal informiert. Iqbal hat sich tatsächlich ziemlich intensiv mit Nietzsche auseinandergesetzt und er hatte eine gewisse Schwäche für ihn, weil er in Nietzsche einen Mann sah, der einfach nur einen Führer brauchte. Denn er erkannte die Folgen der Leugnung und Abkehr von Gott. Aber er erkannte auch die Probleme mit dem Christentum und wollte nichts damit zu tun haben. Doch er hatte keine Alternative. Dennoch war er so ein Intellektueller, dass er erkannte, dass er in seinem Leben mehr brauchte als nur materielle, subjektive Dinge. Aber es gab keinen Ausweg für ihn, und genau das war der Grund für seine Frustration, seine Unruhe. So deutete Iqbal ihn. Und wisst ihr, wie Nietzsche schließlich starb?

Ein Student: Er hat sich umgebracht, oder?

Imran Hussein: Ich weiß nicht, ob er sich umgebracht hat, aber er ist verrückt geworden.

Ein Student: Er streichelte ein Pferd oder so.

Imran Hussein: Er streichelte ein Pferd. Ich glaube, das war irgendwo in Deutschland. Ich weiß nicht mehr genau, wo. Und danach wurde er verrückt. 

Ein Student: Das ist ein Indiz für die Frustration.

Imran Hussein: Richtig, er verlor komplett den Verstand. Und hier kommt wieder die aya ins Spiel, die wir letzte Woche besprochen haben, Sure 59, Vers 19: „Und seid nicht wie diejenigen, die Allah vergessen haben und die Er dann sich selbst hat vergessen lassen. Das sind die Frevler.“ In dieser aya sagt Allah quasi, dass diejenigen, die sich vom Gedenken an Ihn abwenden, ein beengtes, deprimiertes Leben führen. Das gilt vielleicht nicht für jeden, aber wenn du ein Genie bist wie Nietzsche oder einen Intellekt oder Verstand wie er hast, dann steckst du im Grunde in Schwierigkeiten. Du steckst in großen Schwierigkeiten, und sein Leben ist ein Beweis dafür… Ja, Bruder?

Ein Student: Entschuldige, ich wollte dich nur fragen—wir haben doch über das Nachdenken usw. gesprochen und dass im Qur’an steht, dass Allah diejenigen rechteitet, die… ich weiß nicht, ob Er das genau so sagt. Aber was zumindest das Nachdenken betrifft, können wir uns doch darauf einigen, dass Nietzsche sehr viel davon getan hat, richtig? Er hat viel nachgedacht, immerhin war er Philosoph. Und ich meine, die Tatsache, dass er den Verstand verlor und er wusste, dass Gott existieren muss, wie du schon gesagt hast, und dass er deshalb verrückt wurde… warum hat Allah ihn denn nicht rechtgeleitet?

Imran Hussein: Allah weiß es am besten, Bruder.

Ein anderer Student: Zur damaligen Zeit war die Vermittlung des Islam in Europa alles andere als aufrichtig. Es gab viele Beleidigungen gegen den Propheten ﷺ und die Verbreitung falscher Geschichten über ihn. Wie viele dieser Aufklärer wären wohl tatsächlich Muslime geworden, hätten sie den wahren Islam kennengelernt?

Imran Hussein: Vergesst nicht, dass die Gelehrten sagten, dass Menschen, die die Botschaft des Islam nie erhalten haben oder sie zwar erhalten haben, aber sie verfälscht oder verzerrt wurde, am Tag des Jüngsten Gerichts geprüft werden.

Ein Student: Glaubst du, dass die Tatsache, dass er verrückt wurde…?

Imran Hussein: Das wollte ich gerade sagen.

Ein Student: …sein Segen von Allah war?

Imran Hussein: Vielleicht war es sein Segen, ja, eine Barmherzigkeit von Allah. Denn bei einem Verrückten wird nichts [an Taten] aufgeschrieben [d. h. er ist vor Allah nicht rechenschaftspflichtig].

Ein Student: Ich habe auch mal ein Video auf „Blogging Theology“ gesehen und dort wurde gesagt, dass Newton ein unitarischer Christ war, der die Dreifaltigkeit ablehnte und meinte: „Das ist lächerlich, warum glauben die Menschen noch daran?“ Ich bin mir aber nicht sicher, wie der Islam zu jener Zeit in England wahrgenommen wurde—

Imran Hussein: Es gab definitiv viele negative Darstellungen. Denn viele der Quran-Übersetzungen aus dieser Zeit stammten von Orientalisten, die ein Interesse daran hatten, den Islam in einem falschen Licht darzustellen.

Ein Student: Hat Nietzsche nicht die Werke muslimischer Philosophen gelesen?

Imran Hussein: Soweit ich mich erinnere, hat er wahrscheinlich einige Dinge über den Islam gelesen, aber nicht viel. Ich möchte jedoch nicht behaupten, dass Nietzsche dieser brillante Mensch war, der vielleicht einfach nur viele Probleme hatte… Allah weiß es am besten. Aber aus der Perspektive von Iqbal hat dieser, glaube ich, in seinen Werken zweimal erwähnt, dass er, wenn er zur selben Zeit wie Nietzsche gelebt hätte, ihn zum Islam geführt hätte. Iqbal selbst war ein ziemlich exzentrischer Denker – ein genialer Geist, der oft missverstanden wird, aber seine Werke sind wertvoll. Wenn ihr euch für Philosophie interessierst, solltet ihr sein Werk „The Reconstruction of Religious Thought in Islam“ lesen. Er war ein sehr weiser Mann, der, sagen wir, einige einzigartige Ansichten hatte. Aber seine zentralen Konzepte und Ideen, besonders der Fokus darauf, dass Muslime eine tiefe Beziehung zu Allah aufbauen und sich mit Ihm verbinden, um die Welt zu verändern, waren sehr tiefgründig und kraftvoll.

Ein Student: Mir gefällt vor allem ein Gedicht von ihm. Darin führt er die muslimische Jugend zurück in die Zeit des Goldenen Zeitalters des Islam. Er sagt: „Wisst ihr noch, wie ihr damals wart und wie ihr jetzt seid? Ihr stammt aus einem Beduinenvolk, und doch habt ihr mächtige Imperien aufgebaut und große Errungenschaften erzielt. Und jetzt schaut euch an, wie ihr euch verhaltet.“

Imran Hussein: Ja, ich denke, er wird oft missverstanden. Viele Muslime ignorieren ihn oder lehnen ihn ab. Das liegt daran, dass vor allem die säkularen Muslime sich mit ihm befassen. Wenn sie seine Werke interpretieren – und wie du weißt, Bruder, kann Poesie auf viele Arten verstanden werden – tendieren sie dazu, sie auf eine sehr säkulare Weise zu deuten, was zu vielen Missverständnissen führt. Aber ja, er hatte sehr tiefgehende Einsichten. Er war ein Genie, Bruder. Ich denke, er hat außergewöhnliche Arbeit geleistet, mashaAllah. Möge Allah ihm vergeben und ihn ins Paradies führen.

Gibt es noch etwas, Brüder, bevor wir für heute Schluß machen?

Gut, dann denke ich, dass wir nächste Woche mit diesen verschiedenen Krisen beginnen und sie alle durchgehen werden. Im nächsten Abschnitt werden wir uns dann darauf konzentrieren, den Islam als eine umfassende Weltanschauung zu verstehen und zu sehen, wie er ein Gegenmittel für all diese Probleme darstellen kann – diese Krisen, die wir ausgearbeitet haben, inschaAllah.

Jazakallahu khayr, Brüder, möge Allah euch segnen, und wir sprechen uns nächste Woche wieder, inschaAllah.

Assalamu’aleykum wa rahmatullah.

  1. Anmerkung ITV: Im Video wurde nur bis zu dieser Stelle vorgelesen, aber wir wollten euch das ganze Stück vorlegen, weil es sich im Original - eben auf deutscher Sprache - ohne den restlichen Text so „abgehakt“ liest, als würde es einfach abrupt enden.

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