Das alte Ägypten glaubte, dass seine Religion, seine Philosophie, sein Glaube an die Menschen und seine Kultur der universelle Standard und Maßstab für die Wahrheit waren. Heute ist es nur noch eine vergangene Zivilisation, die nicht mehr existiert und deren geistige Weltanschauung keinen Einfluss mehr hat (außer natürlich in den „Mumienfilmen“).

Die derzeit bedeutendste Zivilisation ist die westliche Zivilisation, die Glaubenssätze, Philosophien, Vorstellungen über Menschen und Kultur hat, die sie als universellen Standard und Maßstab für die Wahrheit ansieht.

Der Unterschied zwischen dem kolonialisierten Muslim und dem intellektuell authentischen Muslim zeigt sich in ihrer Herangehensweise an das Studium westlicher Studien.

Während der intellektuell authentische Muslim die Mathematik und die Naturwissenschaften studiert, um sie für ihre offensichtlichen praktischen Zwecke zu übernehmen, geht der kolonialisierte Muslim weiter und übernimmt die sogenannten „Geisteswissenschaften“, die sämtliche westlichen Studien über den Menschen beschreiben und auf der westlichen philosophischen Weltanschauung basieren. Dazu gehören die Psychologie, die Soziologie, die Geschichte, die politische Philosophie, „Gender Studies“ und die allgemeine Philosophie. Diese Studien stützen sich nicht auf physikalische Beweise für Naturgesetze, sondern auf ein Verständnis, das mit Annahmen, Vorurteilen, Spekulationen und Hypothesen behaftet ist, die davon ausgehen, dass eine Art Individualismus die Grundlage für die Betrachtung des Menschen ist.

Empirische Studien können nichts feststellen, was nicht greifbar ist. Ideen, der Geist/Verstand, das Denken, die Gesellschaft, Geschichte, Sprache, das Wirtschaftssystem (nicht zu verwechseln mit Ressourcengewinnung, Landwirtschaft oder Transporttechnologie) und „Sinn“ liegen also außerhalb ihrer Möglichkeiten, darüber zu diskutieren. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit dem, was ist, nicht mit dem, was sein sollte. Sie findet nur materielle Ursachen, keine intellektuellen oder emotionalen. Deshalb müssen alle Zivilisationen ihre eigene Kosmologie verwenden, um alle Dinge, die mit dem Menschen zu tun haben, zu interpretieren.

Während des Kalten Krieges unterrichteten die kommunistischen Länder die Geisteswissenschaften auf Grundlage ihrer Sichtweise auf den Menschen (d. h. des dialektischen Materialismus1), was, wie Historiker heute zugeben können, ihre Ergebnisse verzerrte. Kolonialisierte Muslime (wie die meisten Westler) sind jedoch nicht in der Lage, ihr westliches Denken aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten.

Kolonialisierte Muslime und Westler mögen argumentieren, dass westliche Bildungseinrichtungen, unabhängig von den philosophischen Traditionen des Westens, objektiv und unvoreingenommen sind. Aber hätten sie das auch von den kommunistischen Staaten und ihren Bildungseinrichtungen während des Kalten Krieges gesagt?

Modernismus, Postmodernismus, Materialismus, Geschlechterindividualismus (Feminismus) und Individualismus sind allesamt grundlegende Vorurteile, die in die westlichen Geisteswissenschaften eingewoben sind. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir die westliche Dokumentation ihrer eigenen Kultur und Gesellschaft als Ressource für muslimische Historiker und Anthropologen nutzen können (damit wir die westliche Zivilisation dokumentieren können), aber jedes nützliche Analysemittel, das das westliche Denken hervorbringt, ist nicht völlig objektiv und kann sich nicht von seiner methodologischen Voreingenommenheit befreien.

Was die empirischen Wissenschaften anbelangt, so sollten alle Quellen für solche Erkenntnisse willkommen sein.

Der intellektuell authentische Muslim kann neben dem kolonialisierten Muslim auch westliche Geisteswissenschaften studieren, aber der Unterschied zwischen den beiden ist wie zwei Menschen, die Ägyptologie studieren. Der eine Ägyptologe studiert das alte Ägypten, um seine Fehler, Errungenschaften, seinen Glauben und seine kuriosen Bräuche zu verstehen, während der andere das altägyptische Wissen studiert, um es in sein eigenes Weltbild zu übernehmen!!! Welcher von beiden ist der Absurde?

Der Qur’an befiehlt den Muslimen, Zeugen der ewigen Wahrheit zu sein, die seit den Anfängen der Menschheit auf sie herabgekommen ist, und jede Zivilisation zu bezeugen und sie zur Wahrheit zu rufen.

Die westliche Zivilisation ist nur eine von vielen Zivilisationen, denen die Muslime begegnet sind, und wie alle anderen hielten sie sich für die ultimativen Schiedsrichter und Kenner der Wahrheit, doch auch sie wird, wie alle anderen, irgendwann in die Geschichte eingehen, und ihre Überzeugungen und Dogmen über den Individualismus werden sich in Mythen verwandeln und ihre Kultur wird zu wunderlichen Geschichten einer vergessenen Gesellschaft werden.

Der Unterschied zwischen dem kolonialisierten Muslim und dem intellektuell authentischen Muslim besteht also darin, dass der eine den Westen als seinen Lehrer betrachtet, während der andere den Westen lediglich als eine weitere Lektion und Warnung sieht.

  1. philosophische Weltanschauung, die die Welt als tatsächlich existierende Materie in Bewegung betrachtet, die aufgrund ihrer inneren Widersprüche Veränderungsprozesse durchläuft.

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1 Kommentare zu “Warum studiert nicht jeder den Westen so, wie wir das alte Ägypten studieren?”

  1. Wunderschöner und spannender Artikel, wie immer liebes Ibn Thabit Verlag! Danke für eure Übersetzungen.

    Was ich daraus gelernt habe:
    – empirische Wissenschaften sind übernehmbar (wobei auch da natürlich Vorgehensweise etc kontrolliert werden sollte)
    – aber gesellschaftliche Theorien und Wissenschaften, die auf westliche gedankliche Theorien basieren, müssen hinterfragt werden
    – Der heutige Westen ist eine Zivilisation wie die alten Ägypter. Nur weil sie aktuell existiert, heißt es nicht, dass sie Recht. Wenn man auf vieles Vergangene zurückblickt, merkt man auch die Fehler anderer Zivilisationen. Wir sollten es kritisch aus der Ferne betrachten.
    – Die moderne westliche Gesellschaft wird auch irgendwann Vergangenheit sein.
    – Unterschiede zwischen kolonialisierten und authentischen Muslimen

    Gedanken, die mir dazu kamen:
    – Die meisten Muslime wurden ja nicht gezwungen an westliche Ideen zu glauben, sondern sie sind meiner Meinung nach sogar postkolonialisiert. Also sie haben die Freiheit im Gegensatz zu der Zeit der Kolonialisierung einen anderen Blickwinkel einzunehmen, aber sie nehmen freiwillig den Blickwinkel des modernen Westens ein! Das finde ich erschreckender, als wenn man wirklich “unter Druck und Lebensrisiko” und in dem Sinne kolonialisiert den einnimmt. Ich würde also noch zwsichen kolonialisiert und postkolonialisiert unterscheiden.

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